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Ihre Musik

Es ist Sommer, über den Rollstuhl, der in Ecke nah an der Tür abgestellt ist, hat sie eine Decke gebreitet, um ihn nicht sehen zu müssen, das Zimmer ist hell, die Wände sehr weiß, weißer als sonst. Sie war ein letztes Mal beim Arzt, einem andern, der, mit verschärftem Befremden, beinah das gleiche zu ihr sagt wie die ärzte vor zwei und vor drei Jahren, hat ein letztes Mal ihre Interferone genommen, nach zwei Tagen wieder damit aufgehört, ist nach drei Wochen, ohne besondere überraschung oder Freude, gleich morgens nach dem Aufstehen, erste mühsame Schritte gegangen, dann, als würde sie an eine Besserung glauben, jeden Tag ein paar Schritte mehr. Sie hat immernoch keine Schmerzen (oder hat jetzt, seit sie aufgehört hat, Medikamente zu nehmen, wieder keine Schmerzen), es ist eher so, daß sich Bewußtseinsfelder und weite leere Räume, dann wieder eigenwillig geformte Gegenstände von großer Dichte von Zeit zu Zeit neu in ihrem Körper verteilen, aus den abgerundeten Oberflächen der Gegenstände (die wie Plastilin zugleich nachgiebig und hart sind), können Haken weiter vordringen und verdrängen, was bisher einfach und bewußtlos an dieser Stelle in ihrem Bein oder ihrer Hüfte oder in ihren Eingeweiden wirkte. Alles ist vor langer Zeit zuende gegangen, alles läuft friedlich weiter, ohne sie, so gut wie ohne sie, fast beiläufig schneidet sie durch ihre Bewegungen wie mit Schlittschuhkufen noch der Wirklichkeit (mehr als eine Leinwand, eine Haut; mehr als eine Haut, eine Leinwand) scharfe kleine Wunden. Ihre Mutter schiebt den Rollstuhl an einem heißen Frühlingstag über den Sand und die kleinen Kiesel der Parkwege, keine sieht das Gesicht der anderen, sie hat die Augen weit offen und denkt, keiner der Menschen hier, deren Blick die junge Frau in dem Rollstuhl zugleich anzieht und abstößt, weiß, ob sie nicht blind ist oder schwachsinnig, sie ist ein Tier, sie spricht nicht, während Emilia (so als wollte sie ihr Geschmack machen oder wenigstens in der Vorstellung wieder von der Tochter begleitet werden können, oder einfach, um zu reden und eine Art von Milde in den Worten, gleich welchen, in der Fremdheit der Sprache und der Gegenstände zu finden) in den Pausen langer Schweigephasen von einem Theaterbesuch erzählt, nicht nur von dem Stück und der Aufführung, auch von anderen Besuchern, ihren selbstgerechten verlorenen Gesichtern beim Zuschauen, ihrem selbstgerechten verlorenen Benehmen in den Foyers, spitze kleine sanft erschreckende Bemerkungen, denen sie früher einmal zugehört hätte. Dora trägt ein weißes T-Shirt, durch das sich die Brustwarzen abzeichnen, sie starrt, während sich Lederriemen fest um ihre Schenkel schnüren und eine Faust sich um ihre Wirbelsäule schließt, die Passanten, deren Blick sich auf ihr Gesicht oder auf ihren Körper verirrt, von unten her an, bis sie rotwerden oder das Gesicht abwenden, nur so kann oder will sie noch einen anderen treffen und aus der Zufälligkeit herausholen, entkleiden und hinausziehen aus ihrer Zeit. Die Tauben am Weg weichen mit ein paar schnellen Schritten aus, sobald sich das Geräusch des Rollstuhls nähert, picken ein wenig entfernt weiter am Boden herum; über ihr ziehen mit unerwartbarer Eleganz andere Tauben Schleifen am Himmel, über ihr und den exakten Parallelen und Diagonalen der Wege und Alleen, den grünen und grauen Flächen der Kinderspielplätze, Höfe, Sportplätze, Wiesen und Wäldchen, über den Mauern, den Dächern der Palais, Schulen und Flaktürme. Sie schließt die Augen, die Faust in ihrem Rücken preßt das Rückgrat zusammen und hebt ihre Eingeweide und ihren ganzen Leib an; alles, was in ihrem Körper vor sich geht, geht auch in ihrem Kopf vor sich; jeder Anblick, den sie bietet, ist ihrem Bewußtsein so gegenwärtig wie dem Bewußtsein des Betrachters, viel mehr als ihm: ihre Glieder werden sich zusammenziehen als würden sie zerschmelzen, sie legt den Kopf in den Nacken und öffnet langsam dem Mund, stößt mit unnötigen willk&uu ml;rlichen Bewegungen (Emilia erschrickt) mehrmals rhythmisch den Kopf nach oben. Im Netz von steinernen Windungen und Furchen zwischen den flach erscheinenden Dächern sind die Fußgänger und die Autos winzig geworden, kein Sturm ist nötig; sie denkt nicht an eine Rückkehr. Ob sie redet oder schweigt, Emilia hat immer das Gefühl, eine Spur zu wenig und eine Spur zu viel zu sagen; zu viel auch beim Schweigen; zu wenig auch beim Reden; sie hat, bei jeder Geste der Unterstützung, Angst, gerade diese Geste könnte unnütz oder, mehr als unnütz, demütigend und beleidigend sein; sie ist bei jeder unterlassenen Geste der Unterstützung im nächsten Moment (oder schon im selben Moment, aber unter einem Bann stehend, gelähmt) der überzeugung, gerade diese Geste wäre notwendig gewesen, jetzt aber, ganz gleich wie minimal die Verzögerung war, unmöglich geworden. Zugleich weiß sie mit größter Selbstverständlichkeit, was zu tun wäre, aber es ist, als könnte sie ihr eigenes Wissen nicht mehr erreichen oder als könnte sie ihrem eigenen Wissen nicht mehr glauben; ihre Hülle wäre noch vorhanden, aber alles, was sie einmal war, verloren; eine mechanische, falsche Nachahmung ihrer selbst wäre alles, was ihr noch zu tun bliebe, jetzt schon, wie erst später, von anderswoher, nirgendwoher gesteuert. Das Schieben des Rollstuhls ist nur die Wiederholung und die Parodie des Kinderwagenschiebens vor fast vier Jahrzehnten, das Reden dabei, wie zu einer Erwachsenen und doch eher Klang und stille Musik als Bedeutung (doch die Klänge in ihrer Kehle trocknen aus, werden in ihren Ohren zu einem papierenen Krächzen), ist Wiederholung und Parodie des fast singenden Erzählens oder fast erzählenden Singens in den Kinderwagen hinein, in Doras Babylächeln oder Weinen oder Schlaf. Dora scheint ihre Krankheit zu spielen, zu übertreiben, zu genießen, während sie zugleich daran verzweifelt, scheint das Verzweifeln spielerisch zu übertreiben und zu genießen, sie legt den Kopf in den Nacken, öffnet den Mund, hebt die Arme, an den Rand der Sitzfläche vorgerückt, in ihrem fleckigen Sweater, aus dem sie sich noch weitgehend selbst herausschälen kann, der Trainingshose, die sie jetzt daheim der Einfachheit halber immer trägt. Die Prozedur von Gewichtsverlagerungen ist das Mühsamste: ihre Hüften nach links und dann nach rechts zu schieben, milimeterweise (während sich Dora mit den Ellenbogen auf den Armlehnen hochstemmt) die Hose auf der einen und dann auf der anderen Seite herunterzuziehen, die sinnlos weiße weiche Haut dieses Bauches, der dunkle Haarbuschen sind, aus der Form gelöst, nah an ihrem Gesicht, sie sieht keine Frau, sondern Einzelteile eines Körpers, eines in sich verschlossenen und zugleich ausgestellten Wesens von einem anderen, unerreichbaren, fremden Geschlecht, das doch nie etwas anderes als ihre Tochter sein wird, das Baby, das Mädchen, die Frau, die Tote; dieser Körper und zugleich etwas ganz anderes als dieser Körper, etwas, wofür sie keine Worte hat, das immer am Verschwinden ist. Sie schiebt einen Arm unter beide Achselhöhlen, den anderen unter die Knie, braucht alle Kraft, um Dora, die mit aller Kraft mithilft, aus dem mit angezogenen Bremsen auf der flauschigen beigen Fußmatte im hellen großen Badezimmer stehenden Rollstuhl zu heben und auf den Badewannenrand zu setzen, die Grünpflanzen, deren Blätter vom Boden her die Wand hochklettern oder sich seitlich von Glasschränken hinabbiegen, öffnen über ihren Köpfen die verkachelten Mauern und verschließen sie von neuem, das Metall der Armaturen spiegelt das warme, helle Licht wider, konturenlose Haut, die Hände der alten Frau, ihre Arme unter den aufgekrempelten Blusenärmeln, angespannte, fast verzerrte Gesichter. Keine redet jetzt mehr; manchmal löst sich ein ächzen aus einer Kehle, wie etwas Ekelhaftes oder Verräterisches. Das Abrutschen in die Badewanne, nackter hier daheim und fast allein als jemals irgendwo zuvor, ist wie ein Abrutschen in jedem Bild, das von ihr besteht. Sie ist sich sicher, daß jemand drittes da ist und sie beobachtet; wenn sie den Kopf wendet, verschwindet er. Sie wäscht sich selbst, mit ganz langsamen Bewegungen, das gelbe abgerundete, jeden Tag dünner werdende Seifenstück glitschig zwischen ihren Fingern, der Blick der danebenstehenden Mutter ist aufs weiße Email neben ihrer Haut oder eher in eine Leerstelle zwischen dem Körper und dem Email hinein gerichtet, während sie ihr hilft, den Rücken einzuseifen und das Shampoo im Haar zu verteilen. Sie versucht sich an den Unterschied zwischen der Berührung eines Gegenstandes und der Berührung von Menschenfingern zu erinnern, sie spürt die Berührung, ihre Haut ist so wie sie gewesen ist, ihr Körper ist so, wie er gewesen ist. Die Stunden fließen ineinander, Nachmittage in dieser Badewanne als Kind mit Emilia, Nachmittage und Abende mit sich allein, als Mädchen, als gesunde junge Frau, Abende als gesunde junge Frau (große Knie und Hände wie Spielzeug, über das sie verfügen und das sie im Dunkel unter den Geschichten, in die sie es verwickelt, versinken lassen kann: Wege durch endlose Landschaften, Echos, ein Dahintreiben wie auf Meeren, ein Streicheln) mit Männern, mit Jan, endlose Viertelstunden als gelähmte Frau, fast als Ding (nein, in der Bewegung durch ganz andere, härtere, klarere Welten) wieder mit Emilia, unter Emilias Händen, ihrem jetzt abgewendeten Blick. Der Halt dieses Moments, an den (sie wissen beide, daß die Mutter hier schon nur mehr, mit letzter Kraft und dann wieder fast beiläufig, tut, als würde sie sie halten) niemand glaubt, bekommt anderswo und anderswoher seine Wirklichkeit, durchscheinend unter dem Als ob: in der Gleichzeitigkeit, unter der plötzlich weit gewordenen Klammer aufblitzend, jetzt, wo es zu spät ist; als könnte sie oder jemand, der ihren leblosen Arm führt, die parallelen Erinnerungsbilder von diesem Erinnerungsbild trennen, dann neu in Schwebe bringen; als könnten die parallelen Erinnerungsbilder dieses Erinnerungsbild halten. Emilia beugt sich, am Badewannenrand sitzend, zur Halterung des Duschkopfes über dem Wasserhahn hinüber, dreht erneut das warme und dann, nur als winzige mildernde Beifügung, das kalte Wasser auf, prüft mit einer Hand die Wassertemperatur, hinter Doras Körper, sie hört das Prasseln, spürt gleich das Wasser über ihren Rücken streichen, ihre Haut glänzt auf, sie schließt die Augen, das Haar glättet sich, fällt ihr über die Schultern und übers Gesicht, klebt an den Schultern und am Gesicht, kleine weiße Rinnsale von Shampoo und Seife bilden sich, lösen sich auf, das Brennen in ihren Augenwinkeln (sie beginnt nicht zu weinen) wird gleich wieder weggespült, sie vertraut den Elementen vollkommen, ist ein Kind, vertraut dem Boden unter ihren Füßen, dem Wasser, der Hand, die sie hält, dem Blick, der sie ansieht. Sie steht am gläsernen Fenster, ohne jede Scham. Sie ist erwachsen und verstümmelt, ihre Knie und ihre Hände sind klobige Bauten oder Gestelle in einer leeren Landschaft, sie stellt sich die Flachdächer aus Beton hoch über einer wüstenhaften Stadt ohne Namen vor, die vereinzelten Menschen auf den Dächern, rund um die von innen her beleuchteten Pools, ihre langsamen Schwimmbewegungen, selbst wenn sie draußen in der Luft sind, ihr weißes Fleisch, ihre behaarte Bäuche und Arme, nackte bedeutungslose Dinge, niemand, der wiederzuerkennen ist, kein Weg und kein Ende. Sie steht in der Bewegung still, kein Zentrum ist zu sehen, keine Vorstellung knüpft sich an den Ort, die Wände des Badezimmers, die hellen Kacheln, in denen das Licht schimmert, die Spiegel, die sanften Pflanzen kippen zur Seite und lassen sie vor dieser Landschaft, unter diesem dunklen Himmel zurück, mit dem ungewissen Glanz auf den Beton- und den Wasserflächen, wie auf sanft gekräuseltem Meeresschlamm, ihr eigenes Atmen ist ihr fremd. Wem gehört ihr Bild, das Bild im Spiegel, gereinigt und von allem, was weggestrichen werden kann, befreit; für wen kann sie noch Sätze aufheben wie sie immer für Emilia Sätze aufgehoben, wenn auch nie ausgesprochen hat; für wen kann sie denken? Hat sie selbst die Verbindung abgeschnitten, in welcher Erwartung, oder ohne jede Erwartung? Sie liegt am Bett, es ist zum letzten Mal Sommer, das Zimmer ist hell, die Wände sehr weiß, weißer als sonst, sie liest und raucht eine Zigarette, bei offenem Fenster und Musik aus dem Radio, streckt die Beine aus, meint, sie würde es nicht nur für sich machen, das Lesen, das Rauchen, das Daliegen, Fortgehen, es nicht nur für sich gemacht haben.