zum Hauptmenü

Bücher

Der einzige Ort

Durch eine Regenwand (denn von jetzt an regnet es beinahe ständig) steigen die vierzehn Männer mit ihren Pack­eseln abends in den Wald von Ouassoulu hinein, den man, aus Angst vor Räubern, wie Caillié zu verstehen glaubt, tagsüber nicht durchqueren kann, das erscheint ihm, bei aller Bereitschaft zur Furcht, etwas absurd, aber er stellt keine Fragen, womöglich hängt diese Vorsicht mit Geistern zusammen, und er will sich um derlei Dinge nicht kümmern. Caillié weiß nicht genau, ob sein neuer Führer Fulah oder Mandingo ist, er soll eine Art von Heiliger sein und heißt Arafanba, ein nichtssagender Name, Caillié ist, in dem Zustand, in den er hineingerät, jeden Tag und jede Stunde etwas tiefer, nur froh, daß er nie etwas von ihm verlangt, wenig spricht und dankbar für alle Geschenke ist. Seine Arme streifen an mannshohen feuchten Farnen an, die Schreie der Nachtvögel und der Hyänen sind zu hören, Fetzen von Geschichten von Angst oder Wut, die in der Finsternis und Leere verschwinden, selbst das Quaken der Frösche erscheint Caillié verzweifelt, weil all diese Tiere nur diesen einen Ort kennen, an dem sie sterben werden. Es ist kalt, und das Fieber, dessen Steigen sein inneres Thermometer registriert, verstärkt das Kältegefühl, man versinkt mit den Füßen im Schlamm, und schon in den ersten Tagen zerreißen Cailliés Sandalen, er weiß sie nicht zu flicken und niemanden darum zu bitten. Das Wasser rinnt in seinen Kragen, er fühlt sich nackt; manchmal glaubt er, seine Haut, die Grenzen seines Körpers lösen sich auf. Er geht mit bloßen Füßen weiter, die sich bald in taube Eisklumpen verwandeln, während der Rasten, am Feuer taut er auf und sieht zu, wie die Schmerzen sich ausbreiten; er bekommt seinen Anteil an den gerösteten Erdnüssen, viel mehr an Proviant hat man nicht dabei. Die kalte Coussabe klebt an seiner Haut: er weiß sich im Schlaf unter Wasser gefangen und zuckt hilflos, in vergeblichen Versuchen, von der Stelle zu kommen. In wachsender Hast zieht die Karawane jenseits des Waldes durch Gegenden, wo nur vereinzelte abgerissene Fulahfamilien, halbnackte Frauen, Männer mit schlecht geschnittenen Bärten und mit Tabak vollgestopften Nasen, dickbäuchige Kinder wohnen; sie überquert, auf verfallenen Brücken und durch Furten, bis zu den Hüften im Wasser, Nebenflüsse des Djoliba; es regnet weiter, und er denkt nicht mehr daran seinen Schirm aufzuspannen, ihm genügt, daß er ihn bei sich hat, er hält sich daran fest. Die wohlhabenderen kleinen Dörfer weiter im Nordosten werden, wie er – ohne die Energie, Fragen zu stellen – meint, von Fulahs bewohnt, die aber eine andere Sprache sprechen und keine Religion und keine Sklaven haben, deshalb (er glaubt an die Segnungen des Privateigentums) sind ihre Felder auch besser bestellt als die im Fouta Djallon, er stellt sich vor, an einem Herbsttag, am Fluß Mignon entlang, durch die Felder von Mauzé zu ziehen, wie er es in seiner Jugend oft getan hat, immer allein, ohne darauf zu achten, wie sich sein Haar und seine Kleider durchnässen (im Haus der Großmutter warten auf ihn der Ofen, an dem seine Kleider trocknen werden, und Wolldecken, in die er seinen schmächtigen weißen Körper hüllen wird, Finger, die über seine Stirn streichen), voller Lust am stundenlangen Marschieren, in seinen Gedanken in unwirklichen tropischen Gegenden, die nahe Wolkendecke über ihm ist die Verbindung, die Felder, hier und dort sind die Verbindung; ein seltsames Verschwimmen der Unterschiede, wie in einer wechselseitigen Spiegelung, zugleich ein Aufklaren in seinem Kopf, eine Helligkeit und Freundlichkeit, deren Widerschein (wenn es nicht umgekehrt ist) auf seine Umgebung zurückstrahlt; als wäre da nichts als das Licht.
Manchmal hat er jetzt zum Schlafen wieder ein Dach über dem Kopf. Die Leute sind neugierig, aber belästigen ihn nicht mit offenkundigem Mißtrauen, sie schenken ihm Milch und da und dort ein Huhn oder sogar ein Schaf, ein Europäer, denkt er, könnte hier auch ohne Verkleidung reisen, er wird nur immer wieder gefragt, ob seine Haut echt ist oder ob sich darunter nicht sein wahres schwarzes Ich verbirgt; er wird gefragt, wieviele Kinder er hat, und er antwortet kleinlaut in seinem Pidgin-Malinke, até, ne até din-din, und Frauen? setzt man dann ungläubig fort, du hast auch keine Frauen? atè, sagt er, er wartet mit all dem (immer spricht er so, als hätte er noch gar nicht angefangen zu leben) auf seine Heimkehr (wenn in Wahrheit sein Leben vielleicht schon zu Ende ist), man tut, als würde man seine Antwort verstehen und könnte sie akzeptieren. Was die Frauen aus der Gegend betrifft (unvorstellbare Nähe, die es bedeuten würde, eine von ihnen auszusuchen und mitzunehmen und auf diese Art vielleicht unauffälliger zu reisen), so unterscheiden sie sich deutlich von den Fulah- und Mandingofrauen, sie haben zugespitzte Zähne, schnupfen Tabak und tanzen gerne, aber sie sind (das sagt er sich immer wieder vor und schreibt er immer wieder auf, er schaut aus seiner fast unendlichen Distanz auf die Reihe von Brüsten, ihr Auf und Ab nach dem Takt der Bewegung) nicht indezent, sie knien im übrigen devot vor den Männern nieder und senken den Kopf, was ihn verwirrt und beschämt, wenn es beim überreichen der Schale Milch ihm gilt; sonst hat er keinen direkten Kontakt, empfängt nur dann und wann beglückt ein Lächeln, das er seinem exotischen Aussehen verdankt. Begeistert ist er von einer Zwanzig-Mann-Blaska­pelle, die er eines Abends in einer kleinen Ortschaft unter einem Bombaxbaum auf der Stelle tretend marschieren sieht, er verliert sich im ungewohnten, wilden und zugleich harmonischen Klang und bewundert die federgeschmückten Köpfe und die bunten Kleider der Männer, für kurze Zeit vergißt er, betäubt von der Musik und dem flackernden Feuerschein, die abgeschabte Haut an seinen Füßen, die blutigen Stellen, die bei jedem Tritt, bei jeder Berührung mit der Außenwelt schmerzen; jeden Abend versucht er, die Füße mit Blättern und ein wenig Leinen zu umwickeln, doch am nächsten Morgen löst sich diese dünne Schutzschicht auf den feuchten Wegen bald auf. Auch in Sigala, der Hauptstadt von Ouassoulu, halten sich die Reisenden nur einen Nachmittag und eine Nacht auf; der König läßt dem weitgereisten Araber und seinem Führer eine Einladung zukommen, sie durchqueren das kleine Dorf seiner Ehefrauen und ein Gewirr von langen schmalen Gängen zwischen Erdwällen und gelangen dann statt in den erwarteten Palast in eine einfache runde Hütte ohne Möbel, in der ein Heuhaufen in einer Ecke darauf hindeutet, daß ein Pferd mit dem König zusammenlebt. Caillié empfindet beim Anblick der Teekanne aus Zinn und der kupfernen Teller, aus denen ihnen, kaum daß sie auf Kissen am Boden Platz genommen haben, serviert wird, einen Schock, der ihn selbst befremdet; er erkennt, ohne daß er es wagen würde, sein Interesse zu zeigen und sich die Reliefs genauer anzusehen, sehr alte portugiesische Fabrikate darin, und er möchte weinen (können Dinge einsam sein, fragt er sich später in einem Traum, der damit endet, daß sein Mund sich mit schwerer dunkler Erde anfüllt, die klumpige Zunge an den Gaumen gedrückt wird, er in einem vergeblichen Versuch, wieder zu Atem zu kommen, die Erde hinabwürgt, sie erreicht seine Lunge und sein Herz, das er dann plötzlich, mit der Gewißheit zu sterben, in seiner Hand hält und, in der stockfinsteren Hütte erwacht – seine einzige Sinneswahrnehmung ist das dumpfe Geräusch des Regens, der draußen gleichmäßig auf den Boden rieselt – , auch noch für einige Augenblicke, mit rasendem Pochen, weiter in der Hand zu halten glaubt), doch er muß wie immer ernst lächeln, nicken, stockende Erklärungen zu seiner Geschichte geben, die von Arafanba erzählt wird, und für die Glückwünsche danken, die hier immerhin leichter zu ertragen sind, weil sie nur seinen Mut und Familiensinn und nicht seinen Glauben betreffen: ich weiß es ja nicht, muß oder darf er auf die Frage antworten, ob sein Vater und seine Mutter noch leben, er starrt auf den Teller vor ihm.